UTMB Mont-Blanc - Wolfgang´s Recap

Ende August, endlich ist es so weit – die lang ersehnte UTMB Woche ist da und wir tauchen sechs Tage lang in die „Bubble“ des größten und wichtigsten Trailrunning Events, dem UTMB Mont-Blanc in Chamonix, ein. Während der Rennwoche gehen 10000 Athleten aus 118 Nation auf verschiedenen Rennen und Distanzen an den Start. Von der Expo, über Startnummernausgabe, bis zu den Topstars ist hier alles etwas größer, hektischer und extrovertierter, als man es von anderen Events kennt. Im gleichen Maße ist das Event bis ins kleinste Detail top organisiert und setzt hier die Maßstäbe. Für einen halben Tag gebe ich mir das Spektakel und hole mir bei der Gelegenheit auch gleich meine Startunterlagen ab. Dafür nehme ich dankend den „Elite Athlete Priority Slot“ an, um möglichst wenig in der langen Warteschlange anstehen zu müssen. Im Nachhinein komme ich mir ehrlich gesagt schon etwas dämlich vor und stelle in Frage, ob dieses Hofieren wirklich sein muss?! Ich versuche trotz des ganzen Trubels jeden Moment zu genießen, bevor wir uns wieder auf den Rückweg zu unserem ruhigen Campingplatz außerhalb von Chamonix machen.

Der schwierige Teil war eigentlich vor dem Rennen schon geschafft. Zwischen dem Entschluss beim UTMB starten zu wollen und dem Moment, an dem ich mich in den Startblock einreihe, sind zwei Jahre vergangen. Dazwischen liegen ein gefinishter 100k Quali-Lauf in Istrien, ganz viel Lotterieglück und noch ganz viel mehr verletzungsfreie Trainingsstunden. Und nun darf ich gesund und fit hier sein und muss eigentlich „nur“ noch Laufen.

Dankbar und demütig

Dankbar und demütig stehe ich im zweiten Startblock. Vor mir die an die 150 Topstars der Szene, hinter mir an die 2600 Läuferinnen und Läufer, neben mir Eva Sperger. Wir lachen über die zwei linken Leki-Handschlaufen, die sie am Handgelenk hat, ehe es ernst wird. Es wird leise. Es liegt eine unbeschreibliche Spannung in der Luft. Als dann die heroische Startzeremonie mit den Worten „THIS IS YOUR STORY!“ eingeleitet wird, laufen mir die Tränen über die Wangen. Die nächsten Minuten bis zum Start gehen mir durch und durch. Gänsehautstimmung pur. Genau diesen Moment erleben zu dürfen, hat mich die letzten zwei Jahre immer wieder motiviert.

Los geht´s. Wir laufen durch einen nicht enden wollenden Menschentunnel, vorbei an tausenden applaudierenden Zuschauern. Einfach der absolute Wahnsinn! Es fällt mir echt schwer, mich zu zügeln und mit angezogener Handbremse zu laufen. Trotzdem vergehen die ersten Stunden wie im Flug und ich erreiche zusammen mit Eva die Verpflegungsstation in Les Contamines, wo Johannes auf uns wartet. Ich mache mich für die Nacht klar und ziehe mir Knielinge an und stopfe meinen Rucksack mit vollen Flasks und Gels.

Vive la France! Contenance?

Kurze Zeit später folgt der Anstieg „Notre Dame“. Von weitem hört es sich so an, als ob man sich einem Fußballstation nähert. Mit jedem Schritt werden es mehr und mehr Menschen, die den Weg säumen. Irgendwann ist der Weg nur noch eine einzige Menschentraube, die kurz vor mir den Weg frei machen, damit man den nächsten Schritt setzen kann. Bengalos, Fahnen, Plakate, Tröten, Kuhglocken, jubelnde Zuschauer… unglaublich, was die sportverrückten Franzosen hier abfackeln. Vive la France! Contenance? Fehlanzeige bei mir… ich überziehe voll und laufe im roten Bereich.

Am Tiefpunkt

Nach Notre Dame wird es still, sehr still. Und lange Zeit dunkel, sehr dunkel. Für mich, gefühlt, die längste und dunkelste Nacht, die ich je erlebt habe. Mir geht es richtig schlecht, bin körperlich und mental komplett leer. Ab einer Höhe von 2000 Meter begleiten mich Schwindel und totale Kraftlosigkeit. Auch meine bekannten Magen- und Bauchkrämpfe melden sich wieder. Ich sehe nur noch unscharf, stolpere unkontrolliert über die Trails und muss mich mehrmals hinsetzen, um mich wieder zu sammeln. Komisch, was da mit mir abgeht. Eigentlich läuft alles schief, was schief laufen kann. Diese lange dunkle Nacht raubt mir mental und körperlich alles, was ich habe – ich bin am Tiefpunkt. Nach knapp 12 Stunden laufe ich heulend, am Boden zerstört und weit hinter meinen Erwartungen in Courmayeur in die Verpflegungsstation ein, wo mich meine Frau Katrin bereits erwartet. Die letzten 9 Stunden habe ich nur damit verbracht, an meiner Erklärung zu formulieren, warum ich in Courmayeur das Rennen beenden werde. Katrin zieht souverän das zuvor ausgemachte „Support-Programm“ durch und signalisiert mir in keinster Weise, dass es hier für mich Schluss sein sollte. Ich bringe es auch nicht über die Lippen – das, was ich mir die vielen Stunden vorher zusammengereimt hatte. Zum Glück.

Gamechanger

So schnüre ich meine Wechselschuhe und geh einfach wieder los – zugegeben mit einem sehr, sehr unguten Gefühl. Die ersten Meter, nach dieser langen Pause, tun richtig weh. Etwas später bin ich wieder im Laufrhythmus und führe eine nette Unterhaltung mit einem Läufer aus Manchester. Wir lachen und pushen uns gegenseitig den Anstieg aus Courmayeur raus. Es ist 6 Uhr morgens und die ersten Gipfel leuchten im Morgenlicht. Ich fühle mich wieder deutlich besser und bin wieder bei Kräften. Ob das an der ausgiebigen Verpflegungspause, am netten Smalltalk oder am Tageslicht liegt? Wahrscheinlich eine Kombi aus allem. Jedenfalls habe ich meinen totalen Tiefpunkt überwunden und es geht bergauf! Im Anstieg hoch zur „Refuge Bertone“ kommt mir Eva entgegen. Für sie ist an dieser Stelle das Rennen vorbei. Ich versuche sie zu überreden ihre Entscheidung zu überdenken und mit mir mitzukommen. Leider ohne Erfolg. Im Nachhinein hätte ich hier hartnäckiger sein sollen.

„Hey man, hang on!“

Die nächsten zehn Kilometer folgt ein schöner flowiger Trail, immer leicht wellig in einer Höhe von 2000 Meter. Hier laufe ich auf Thomas Lechermann auf, einen bekannten Läufer aus der Heimat. Wir bleiben lange zusammen, smalltalken und die Zeit vergeht gut. Thomas ist bergauf stärker, als ich und zieht im Anstieg zum Grand Col Ferret davon. Hier geht es mir richtig schlecht. Ich lege mich total entkräftigt ins Gras und schaue plan- und zeitlos ins Weite. [Anm.: der spätere Blick auf die Daten zeigt, dass ich hier satte 10 Minuten !!! verweilte] Eigentlich ist es der perfekte Platz, um den Blick auf die grandiose Bergwelt zu genießen, aber mir geht es viel zu schlecht und ich möchte eigentlich nur die Augen schließen und einschlafen. Doch plötzlich taucht dieser Typ aus Manchester wieder auf und schreit mir lachend zu: „Hey man, hang on!“

Ich lass mich mitreißen und beiße bis zum Gipfel die Zähne zusammen, wohlwissend dass es ab da 20 Kilometer und 1600 Höhenmeter nur bergab geht. Mit jedem Meter bergab geht es mit mir bergauf und ich fühle mich immer besser und hole Thomas wieder ein. Ja, eigentlich überhole ich ab diesem Zeitpunkt nur noch und mache Plätze gut. Den Südhang von La Fouly bis Champex Lac „darf“ ich in der prallen Mittagshitze laufen. Ich nehme jeden Bach und jeden Dorfbrunnen mit, um mich abzukühlen. Endlich komme ich auf die Straße kurz vor dem Ortseingang von Champex Lac.

Ein paar Meter weiter ruft mir Katrin schon laut entgegen „Ja mei Woiferl“. Ich muss lachen und freue mich sehr, sieben Stunden nach Courmayeur endlich wieder meine Liebsten zu sehen. Es stehen 128 Kilometer, 7000 Höhenmeter und knapp 20 Stunden auf meiner Uhr. In der Verpflegungsstation wartet Papa schon aufgeregt auf mich und hat alles perfekt vorbereitet. Ich lasse mir sehr viel Zeit, versuche mich abzukühlen, wechsle meine Schuhe und Klamotten und trinke salzige Kartoffelsuppe.

In Champex Lac steigen sehr viele aus dem Rennen aus. Im Vergleich zu Courmayeur geht es mir hier richtig gut und ans Aussteigen denke ich nicht ernsthaft. Wobei die Versuchung, es hier gut sein zu lassen, schon sehr groß ist. Trotzdem sage ich zu Katrin, dass ich das Ding nur fertig laufe, wenn sie es möglich macht, dass ich mit unseren Kids ins Ziel einlaufen kann. Der Gedanke und die bildliche Vorstellung daran motivieren mich für die kommenden Stunden unglaublich. Ab Champex Lac kenne ich die Strecke teilweise von meiner Teilnahme am OCC 2022. Das hilft sehr. Ich denke nur noch etappenweise von VP zu VP und konzentriere mich darauf, im Laufschritt bleiben zu können – nächster Halt „Trient“ in 16 Kilometer und 1000 Höhenmeter! Die extrem steilen Downhills fordern wirklich nochmal alles. Meine Oberschenkelmuskulatur ist kurz vorm Explodieren. Ich versuche möglichst schonend bergab zu laufen.

„völlig losgelöst...“

Als ich in Trient ankomme und Katrin mit einem Lächeln entgegenlaufe, weiß ich, dass ich das Ding heute zu Ende bringen werde. Ich fühle mich gut, mein Magen spielt wieder mit und ich kann noch einigermaßen Laufen. Wieder nehme ich mir reichlich Zeit im Verpflegungszelt und tanke salzige Suppe und Cola. Kurz vorm Weiterlaufen meldet sich der „DJ-Moderator“ durch die Lautsprecher „Wolfgang, aus Deutschland! Ich habe ein Lied für dich.“ und spielt mich zusammen mit Major Tom „völlig losgelöst“ den Ausgang hinaus. Mein „Schwebezustand“ hält nur kurzzeitig an, bevor ich wieder in einen langsamen Trott falle und den wohl steilsten Anstieg des gesamten Rennens hoch nach Les Tseppes in Angriff nehme. Krass steil! Krass, was der UTMB auf den letzten Kilometern nochmal alles fordert. Egal! Etappenweise denken – nächster Halt „Vallorcine“ 12 Kilometer und 800 Höhenmeter.

Um 19 Uhr erreiche ich Vallorcine. In dieser letzten Verpflegungsstation supportet mich Papa nochmal. Mir geht es immer besser und ich kann es selbst kaum glauben. Der Aufenthalt im VP-Zelt wird deutlich kürzer. Ich nehme nur noch zwei Gels und neue Flasks auf, richte meine Stirnlampe griffbereit und stürze mich euphorisch in den letzten Abschnitt – noch ein letztes Mal beißen und irgendwie 18 Kilometer mit knapp 1000 Höhenmeter durchdrücken.

„Scheiße, jetzt musst Gas geben…"

Den finalen Anstieg nach La Flegere rauf kenne ich auch vom OCC 2022. Im Vergleich zu damals geht es mir jetzt mit 160 Kilometern in den Beinen richtig gut und ich bin auch schneller unterwegs, als damals. Für mich unverständlich, woher gerade diese Power kommt. Liegt es am Koffein-Gel, das ich mir vorm Anstieg reindrücke, oder an der Vorstellung vom Zieleinlauf mit meinen Kids oder an der Gewissheit, dass heute ein ganz großer Traum für mich in Erfüllung gehen wird?! Oder liegt es an den grollenden Gewitterwolken über La Flegere und meinen Gedanken: „Scheiße, jetzt musst Gas geben… ne Regenjacke zieh ich mir heute definitiv nicht mehr an!“ J Keine Wahl bleibt mir allerdings bei der Stirnlampe, welche ich die letzten 90 Minuten nochmal anknipsen muss. Nochmal in eine zweite Nacht reinlaufen ist hart, gerade mit den Hintergedanken, wie schlecht es mir in der ersten Nacht ging. Aber mein Mindset ist zu diesem Zeitpunkt ein komplett anderer als vor 24 Stunden – Euphorisch, „siegessicher“, kraftvoll. Die VP in La Flegere wird nur noch im Vorbeigehen tangiert und schnell zwei Cola geext. Der Schlussdownhill mit 800 Höhenmeter fordert wirklich nochmal höchste Konzentration. Ich riskiere nichts mehr und laufe lieber sicher runter.

Gegen 22 Uhr erreiche ich Chamonix. Der letzte Kilometer durch die Fußgängerzone ist ein Triumphlauf, den ich nie vergessen werde. 100 Meter vom Ziel stehen meine Liebsten. Ich nehme Lina und Kilian an die Hand und wir laufen zusammen nach 176 Kilometern, 9900 Höhenmetern und 28 Stunden über die Ziellinie. Was für ein Erlebnis, was für Emotionen! Was für ein tolles Gefühl, das Rennen mit einem guten Gefühl beenden zu können!

Was bleibt?

Mein Ziel war, das Rennen zu finishen. Das habe ich erreicht. Das macht mich glücklich und stolz. Mein großer Traum war, den Start und den Zieleinlauf in Chamonix erleben zu dürfen. Der Traum ging in Erfüllung. In meiner „Best-best-case“ Planung ging ich von einer Laufzeit von 24 Stunden aus. Nun wurden es 28 Stunden. Enttäuscht? Nein. Es überwiegt das gute Gefühl in der zweiten Rennhälfte und die Freude darüber, wie sich das Blatt nochmal wenden kann. Dass es hart werden wird, war mir klar. Dass der „Worst-worst-case“ nachts so gnadenlos zuschlägt, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich denke, dass ich von der Entscheidung, in Courmayeur weiterzulaufen, noch lange zerren kann. Durchbeißen, auch wenn es mal richtig schlecht läuft und schmerzhaft ist, wird mit einem sehr guten Gefühl belohnt.

Was bleibt sind natürlich auch die Fragen, warum wieder die Bauch- u. Magenkrämpfe, warum die krassen Probleme in der Nacht, was hätte ich anders machen müssen? Gelegenheit, die Fragen zu beantworten und es besser zu machen, wird es in Zukunft mit Sicherheit geben. Der UTMB muss es aber nicht mehr werden. Zu aufwendig, zu teuer, zu hektisch ist dieses Mega-Event. Ich kann das Kapitel UTMB für mich mit gutem Gewissen abschließen.